Flucht aus der Ukraine "In Deutschland geht man offensichtlich davon aus, dass Flüchtlinge wenig arbeiten" Von Ricarda Breyton
Politikredakteurin

Stand: 03.03.2023

Migrationsexperte Thränhardt kritisiert, dass in Deutschland als "wichtigstem Aufnahmeland" viel weniger ukrainische Flüchtlinge arbeiteten als in anderen europäischen Staaten. Das liege auch an geringen Erwartungen an die Gruppe. Druck sei aber der falsche Weg, das zu ändern. Ukrainische Flüchtlinge bei der Ankunft im Hamburger Hauptbahnhof
Quelle: picture alliance/dpa

Polen habe mehr als 1,5 Millionen Ukrainer aufgenommen, Deutschland mehr als eine Million, behauptet die Bundesregierung. Diese Zahlen seien nicht mehr aktuell, sagt Dietrich Thränhardt, emeritierter Professor für Migrationsforschung an der Universität Münster. In einer aktuellen Studie für die Friedrich-Ebert-Stiftung hat er analysiert, wie unterschiedlich die EU-Staaten mit den Flüchtlingen aus der Ukraine umgehen - und was daraus für die Niederlassungen folgt.

WELT: Herr Thränhardt, Sie haben sich die neuesten Zahlen der Ukraine-Flüchtlinge in der EU angesehen und bemerkenswerte Bewegungen festgestellt. Um was geht es genau?

Dietrich Thränhardt: Deutschland ist seit Dezember das wichtigste Aufnahmeland für Ukrainerinnen und Ukrainer, wenn man sich die absoluten Zahlen anschaut. Es hat Polen abgelöst, das lange an der Spitze stand. Die Bewegung hat sich nach Westen verschoben, was wohl auch damit zusammenhängt, dass Polen seine Aufnahmebedingungen relativ restriktiv gestaltet. Ukrainische Flüchtlinge erhalten dort weniger Leistungen als in Deutschland.

Dietrich Thränhardt, 81, ist emeritierter Professor für Vergleichende Politikwissenschaft und Migrationsforschung
Quelle: via Dietrich Thränhardt

WELT: Noch im Februar hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gesagt, dass Polen mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen habe, Deutschland etwas mehr als eine Million. Warum kommen Sie zu anderen Ergebnissen als die Bundesregierung?

Thränhardt: Die Bundesregierung verwendet die Zahl der Flüchtlinge, die sich in einem Land registriert haben. Ein Teil dieser Flüchtlinge ist aber inzwischen in die Ukraine zurückgegangen oder in andere EU-Staaten weitergewandert. Ich beziehe mich auf die neuesten Eurostat-Zahlen, also auf das Statistische Amt der Europäischen Union. Diese Zahlen geben an, wie viele ukrainische Flüchtlinge mit temporärem Schutz real im Land leben. Im Dezember waren das in Polen rund 961.000 Flüchtlinge, in Deutschland 968.000.

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WELT: Die Zahl der real im Land lebenden Ukraine-Flüchtlinge dürfte in vielen Ländern höher sein, weil nicht alle Flüchtlinge tatsächlich Schutz beantragt haben.

Thränhardt: Ich glaube nicht, dass viele Ukrainer langfristig auf den Titel verzichten. Der Schutztitel bietet reale Vorteile: Er erlaubt den Flüchtlingen, sich krankenversichern zu lassen, eine Arbeit aufzunehmen, Sozialleistungen zu beziehen. Im Übrigen sprach auch der polnische Ministerpräsident davon, dass viele Ukrainer zurückgegangen oder weitergewandert seien.

WELT: Die Leistungen, die Ukrainer erhalten, unterscheiden sich in der EU zum Teil erheblich, auch das ist ein Ergebnis Ihrer Studie. Können Sie die Bandbreite beschreiben?

Thränhardt: Es gibt Länder wie Deutschland, die ukrainischen Flüchtlingen Bürgergeld zur Verfügung stellen. Andere Länder gewähren Unterstützung nur für wenige Monate. So erwartet etwa Tschechien, dass sich Flüchtlinge nach sechs Monaten um Arbeit bemühen. Besondere Leistungen gibt es danach nur noch für kinderreiche Familien und Kranke und Alte. Eine ähnliche Regelung hat Polen.

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WELT: Für Deutschland haben immer wieder Gerichte entschieden, dass die Leistungen für Asylbewerber nicht zu niedrig ausfallen dürfen. Halten sich die anderen Staaten an Europarecht, wenn sie die Unterstützung derart drastisch kürzen?

Thränhardt: Für Menschen, die keine Arbeit finden, ist die soziale Unterstützung eine europäische Pflicht. Von den arbeitsfähigen Menschen kann aber durchaus erwartet werden, dass sie sich um Arbeit bemühen. Ob das gelingt, hängt allerdings sehr von den nationalen Begebenheiten ab. In Deutschland etwa läuft die Arbeitsvermittlung für Ukrainer sehr schleppend.

WELT: Laut Ihrer Studie arbeiten hierzulande weniger als 20 Prozent der Ukraine-Flüchtlinge. In der Tschechischen Republik, in Polen und den Niederlanden seien es bis zu zwei Drittel. Woher kommen die Unterschiede?

Thränhardt: Ich denke, es liegt an der Komplexität des Systems in Deutschland. Ähnlich ist es in der Schweiz und in Österreich. Es sind mehrere Verwaltungsschritte notwendig, um eine Arbeit aufnehmen zu können. Die Behörden sind überlastet. In den Niederlanden gilt das "One Stop"-System: Man geht zum Gemeindeamt, meldet sich an und dann ist alles geregelt.

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WELT: Sie schreiben in ihrer Studie, dass der Erwartungshorizont bei der Arbeitsaufnahme von Flüchtlingen in den deutschsprachigen Ländern "offensichtlich niedrig" sei. Was meinen Sie damit?

Thränhardt: In Deutschland geht man offensichtlich davon aus, dass Flüchtlinge wenig arbeiten und dass es sehr schwierig ist, Flüchtlinge in Arbeit zu bringen. Ebenso in der Schweiz und in Österreich. Das hat eine lange Tradition, weil für Asylbewerber hierzulande lange Arbeitsverbote galten.

WELT: CDU-Chef Friedrich Merz hatte behauptet, dass das Bürgergeld zu Sozialtourismus von Ukraine-Flüchtlingen nach Deutschland führe, wofür er sich später entschuldigte. Spielt die Höhe der Sozialleistungen eine Rolle bei der Frage, ob sie hierherkommen oder hier eine Arbeit aufnehmen?

Thränhardt: Dafür gibt es nach meinen Untersuchungen keinen Beleg. In Österreich und in der Schweiz sind die Leistungen niedriger als in Deutschland. Trotzdem arbeiten auch dort vergleichsweise wenige Ukrainer. Die These, dass man nur genug Druck ausüben müsse, damit die Menschen arbeiten gehen, halte ich deswegen nicht für zielführend.

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WELT: Funktionieren andersherum positive Anreize? Sie haben darauf hingewiesen, dass die Niederlande die Arbeitsaufnahme ukrainischer Flüchtlinge besonders honoriert habe.

Thränhardt: Die Niederlande haben ihr System gerade geändert. Bis vor Kurzem erhielt dort aber jeder Ukraine-Flüchtling mindestens 425 Euro. Das Geld durfte man behalten, wenn man eine Arbeit aufnahm. Dieser Anreiz war sehr motivierend und hat viele Menschen in Arbeit gebracht. Das Negativbeispiel ist Österreich. Wenn ein ukrainischer Flüchtling dort eine Arbeit aufnimmt, verliert er erst einmal seine Krankenversicherung.

WELT: Was schlagen Sie vor, um mehr Ukrainer in Deutschland in Arbeit zu bringen?

Thränhardt: Es wäre sehr wichtig, gerade im medizinischen Bereich und im Bildungsbereich aktiv voranzugehen. Wir wissen, dass ungefähr sieben Prozent der ukrainischen Flüchtlinge im Medizinbereich gearbeitet haben, also entweder Ärztinnen waren oder Pfleger oder Krankenschwestern. Einige EU-Länder haben Sonderregeln geschaffen, damit diese Personen unkompliziert arbeiten können. In Deutschland ist die Antragstellung sehr aufwendig.

Auffallend ist auch, wie wenige ukrainische Lehrer bislang in Deutschland arbeiten. Es gibt einige Länder, die viele beschäftigten: Sachsen etwa oder Bremen. Andere Bundesländer sind aber noch sehr zurückhaltend.

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WELT: Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) versucht gerade, eine bessere Verteilung der Ukraine-Flüchtlinge in Europa zu erreichen. Was raten Sie ihr?

Thränhardt: Ich denke, dass die Länder aktiver über ihre Aufnahmebereitschaft informieren müssten. Wir wissen zum Beispiel, dass Frankreich eigentlich sehr offen für Flüchtlinge war, aber dennoch sehr wenige Ukrainer nach Frankreich gegangen sind. Das hängt wohl damit zusammen, dass recht wenige Ukrainer schon vor dem Krieg in Frankreich lebten.

WELT: Bislang können sich Ukrainer aussuchen, in welchem Land sie Schutz beantragen. Es gibt aber einige Politiker, die diese Freiwilligkeit infrage stellen. Halten Sie eine verpflichtende Verteilung der Flüchtlinge in Europa für sinnvoll?

Thränhardt: Ich glaube, dass die Freiwilligkeit der Schlüssel zum Erfolg gewesen ist. Im Gegensatz zum Asylsystem hat es keine Spannungen innerhalb Europas bei den Ukraine-Flüchtlingen gegeben.

Wir haben mehr als vier Millionen Menschen in Europa aufgenommen, ohne dass es zu nennenswerten Zerwürfnissen zwischen den EU-Mitgliedstaaten gekommen ist. Die Aufnahme über ganz Europa hinweg, bis Portugal und Irland, hat zur Entlastung der Erstaufnahmestaaten beigetragen.

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WELT: Kann Europa aus der Ukrainer-Aufnahme Lehren für den Umgang mit anderen Migranten ziehen?

Thränhardt: Ja. Vor allem in der Verwaltung. In vielen EU-Staaten haben Ukrainer leicht Arbeit gefunden, weil es kaum bürokratische Hindernisse gab. Für andere Drittstaatsangehörige läuft es sehr viel komplizierter. So dürfen etwa Arbeitskräfte aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens nach Deutschland zum Arbeiten kommen. Allerdings ist die Zahl auf 50.000 pro Jahr begrenzt. Außerdem muss jeder Einzelne einen Antrag auf Einreise bei einem Konsulat stellen. Die Verfahren ziehen sich zum Teil über Jahre und desillusionieren viele.

Die zweite Lehre ist ein positives Verhältnis zwischen Verwaltung und Bürgern. Bei den Ukrainern gibt eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Bürgern und Verwaltung. Im Asylsystem arbeiten sich viele engagierte Bürger an der Verwaltung ab.

WELT: Was meinen Sie?

Thränhardt: Viele Menschen wären bereit, Flüchtlinge privat unterzubringen. Das ging bei den Ukraine-Flüchtlingen ohne Probleme, auch weil der Staat auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen war. Asylbewerber müssen hingegen zunächst in Asylunterkünften leben, was das Ankommen erschwert. Ich denke, dass diese Pflicht aufgegeben werden sollte.

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WELT: Das Gegenargument lautet: Wenn Asylbewerber direkt privat unterkommen, schlagen sie schnell Wurzeln, obwohl sie vielleicht kein Bleiberecht haben. Ist es nicht ein Problem, Menschen erst zu integrieren, um sie dann wieder abzuschieben?

Thränhardt: Das kann ein Problem sein. Allerdings besteht das Problem auch heute schon. Viele Menschen, die eigentlich ausreisen müssten, leben über Jahre in Deutschland und haben hier Wurzeln geschlagen.

Die Ursache liegt aber nicht bei der Unterbringung, sondern bei den langen Verfahren. Bei uns dauern Asylverfahren in der Regel sechs, sieben Monate. Dass es auch anders geht, zeigen Länder wie die Schweiz, die ein sehr effektives Asylsystem hat. Dort dauern die Verfahren im Schnitt 50 Tage.

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WELT: Es gibt unter den Grünen das Plädoyer, andere Asylbewerber ukrainischen Flüchtlingen gleichzustellen - und ihnen statt der Asylbewerber-Leistungen gleich das höhere Bürgergeld zukommen zu lassen. Was halten Sie von der Idee?

Thränhardt: Zurzeit hielte ich das für schwierig. Wenn die Verfahren effektiv wären, sollte man eine Gleichstellung einführen. Wenn sich die Verfahren aber über Monate hinziehen, einschließlich der Gerichtsverfahren über Jahre, und die Leistungen hoch sind, schafft man sich eher Probleme.


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